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Chai Latte

 

Ich öffne die Augen. Heute ist der 1. September. Heute ist der erste Tag meines Neuanfangs.

Heute wird alles anders. Mein Herz beginnt vor Aufregung zu rasen und ich setze mich langsam auf. Es ist sechs Uhr dreißig und die Sonne geht gerade auf. Gähnend mache ich mich auf den Weg ins Badezimmer, wo ich mit meiner Morgenroutine beginne. Ich putze mir die Zähne, wasche mein Gesicht, dusche und schminke mich. All das geschieht vollkommen automatisch. Fast mechanisch. Um sieben Uhr verlasse ich meine Wohnung.

Um sieben Uhr fünfzehn steige ich in den Bus. Die Menschen drängen sich dicht an dicht. Die Sonne scheint durch die Fenster. Nur noch neun Stationen. Ich lächle. Die Türen gehen auf. Manche Personen steigen aus, andere nehmen ihren Platz ein. Nur noch fünf Stationen. Ein Kind lacht. Nun kann ich aussteigen.

Direkt neben der Haltestelle befindet sich ein Coffee-Shop. Ich kaufe mir einen Espresso to Go und eile in die Arbeit, immer darauf bedacht meine weiße Bluse nicht mit Kaffee zu beflecken. Flüchtig begrüße ich meine neuen Kollegen und setzte mich um genau acht Uhr an meinen Schreibtisch unter dem ich schnell aus meinen schwarzen High Heels schlüpfe. Ich logge mich sogleich auf Facebook ein. Drei meiner „Freunde“ haben Geburtstag. Ich gratuliere ihnen und checke anschließend meine Pinnwand, die voller nerviger Posts ist. Ein Katzenvideo, ein Make-up Tutorial, das ich bereits gesehen habe, einige Fotos von meinen „Freunden“…

„Was machen Sie da?!“

Eine tiefe Männerstimme reißt mich aus meinen Gedanken. Ich drehe mich um. Vor mir ragt die fast zwei Meter große, athletische Gestalt meines Chefs auf. Er trägt einen schwarzen Anzug, dessen lange Ärmel seine silberne Rolex verbergen. Ein Perfektionist.

„Ich informiere mich über die neuesten Geschehnisse.“

„Sie sollten Ihre Recherche auf Fachbücher, Zeitungen und Fernsehsender beschränken.“ Sein Blick wandert zum Bildschirm. Es ist acht Uhr fünfundzwanzig.

„Folgen Sie mir, bitte.“

Ich schlüpfe schnell in meine Schuhe und folge ihm in sein Büro. Zwei Männer sitzen auf einem Ledersofa und erwarten uns. Wir werden einander vorgestellt. Ich merke mir ihre Namen nicht. Dann widmen wir uns dem Fall. Steuerhinterziehung. Sie sind überführt worden. Wir sollen sie verteidigen. Die Klienten erläutern ihre Beweggründe. Sie sind unschuldig. Zumindest sollen wir das glauben. Die leeren Worte langweilen mich.

Vor einem Monat habe ich meinen dreißigsten Geburtstag gefeiert. Mit neunundzwanzig Jahren habe ich mein Studium abgeschlossen. Diesen Job habe ich nur erhalten, weil meine Schwester ihre Beziehungen hat. Im Alter von 17 Jahren habe ich mein Abitur gemacht. Ich wollte Sängerin werden. Hollywood, Geld und Ruhm haben mich niemals interessiert. Ich wollte nur singen. Ich will nur singen. Doch ich stamme aus einer Familie in der jedes Mitglied Rechtswissenschaften studiert hat. Eine Karriere als Künstlerin kam nicht infrage.

Plötzlich stehen die Klienten auf. Wir reichen einander die Hände. Ein schmales Lächeln erscheint auf meinen Lippen. Dann verlassen sie den Raum. Mein Chef wendet sich mir zu.

„Das ist nun Ihr Fall. Ich vertraue darauf, dass Sie Erfolg haben. Am Donnerstag treffen wir uns um zehn Uhr im Gericht.“

Ich nicke und sehe ihn abwartend an.

„Sie können jetzt gehen.“

Ich nicke erneut und eile zur Tür. Als ich die Hand auf die Türklinke lege, beginnt er noch einmal zu sprechen: „Ach bevor ich es vergesse. Wenn ich Sie wieder dabei erwische, dass Sie sich in Ihrer Arbeitszeit Fotos und Videos auf Facebook ansehen, sind Sie fristlos entlassen. Jetzt dürfen Sie gehen.“

Ich schlucke.  „Natürlich.“

Dann trete ich auf den Gang hinaus. Es ist neun Uhr vierzig. Als ich wieder an meinem Schreibtisch sitze, logge ich mich aus Facebook aus und schließe stattdessen eine Festplatte an den Computer an. Der Espresso ist kalt.

Mein Wecker klingelt. Ich öffne die Augen. Heute ist der 2. September. Heute wird nichts anders. Ich setze mich stöhnend auf. Es ist sechs Uhr dreißig und die aufgehende Sonne wird von Wolken verdeckt. Gähnend mache ich mich auf den Weg ins Badezimmer, wo ich mit meiner Morgenroutine beginne. Ich putze mir die Zähne, wasche mein Gesicht, dusche und schminke mich. All das geschieht vollkommen automatisch. Fast mechanisch. Um sieben Uhr verlasse ich meine Wohnung. Um sieben Uhr fünfzehn steige ich in den überfüllten Bus. Die schwitzenden, stinkenden Leiber drängen sich dicht an dicht. Noch fünf Stationen. Ein Kind schreit. Endlich kann ich aussteigen. Direkt neben der Haltestelle befindet sich ein Coffee-Shop. Ich kaufe mir einen Espresso to Go und eile im Laufschritt in die Arbeit nur um dort stundenlang vor dem Computer zu sitzen. Um neun Uhr verlasse ich die Kanzlei und gehe in meine liebste Karaokebar. Dort fühle ich mich Zuhause.

Mit Restalkohol im Blut und roten Augen verlasse ich um halb zehn am 3. September die Bar. Barfuß stolpere ich zum Gericht, denn in den High Heels kann ich nicht mehr gehen. Auf dem Weg kaufe ich mir einen doppelten Espresso to Go. Um zehn Uhr treffe ich meinen Chef und die Klienten vor dem Gerichtssaal. Alle sehen mich nervös an, doch ich habe meine Müdigkeit mit Augentropfen und Make-up kaschiert. Meine Schuhe trage ich auch wieder. Zusammen treten wir vor den Richter. Eine halbe Stunde vergeht bis ich aufgerufen werde.

„Danke eurer Ehren…“, beginne ich, dann halte ich inne. Die vergangenen Tage ziehen an meinem inneren Auge vorbei. Will ich so ein Leben führen?

„Diese Männer sind Steuerhinterzieher.“

Aufgeregte Rufe hallen durch den Raum. Während der Richter zur Ruhe bittet, schlendere ich zu meinem Chef, der mir bereits entgegen kommt.

„Was haben Sie getan!?“

„Ich kündige! Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich werde nun endlich tun, was ich will.“

Ohne ein weiteres Wort verlasse ich den Gerichtssaal.

Ich öffne die Augen. Heute ist der 1. September, ein Jahr später. Heute ist der erste Tag meines Neuanfangs. Heute wird alles anders. Mein Herz beginnt vor Aufregung zu rasen. Der Mond ist gerade am Himmel erschienen. Ich verlasse meine Wohnung, kaufe mir einen Chai Latte und fahre mit einem Taxi zur Konzerthalle. Der würzige Geschmack liegt mir auf der Zunge, als ich die Bühne betrete und endlich das tue wofür ich geschaffen wurde.

Text // Christina Vettorazzi

 

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