Indien – ein Jahr im Ausland
Nummer 102. Schwüle Hitze. 45 Grad. Über mir versucht der Ventilator sein bestes, um das Klima angenehm zu halten. Ich warte zusammen mit meiner indischen Gastmutter, unserem Driver und einem Youth For Understanding-Mitarbeiter im indischen „Immigration Office“ von Delhi, um mich als Ausländerin zu registrieren und Indien für die nächsten zehn Monate meine Heimat werden zu lassen. Gerade war Nummer 64 an der Reihe und es dauerte mindestens 10 Minuten, dass sich die Nummer änderte und der Nächste dran kam.
Erdrückt von der schwülen Hitze der Megametropole und dem Lärm des Verkehrs, blieb mir also nichts anderes übrig als zu warten. Warten in einem Raum vollgefüllt mit Immigranten verschiedener Nationen: Afghanen, Pakistanern…darunter neben mir eine junge Frau, die von einer kleinen Insel im indischen Ozean nach Indien kam, um zu studieren. Schlechte Aussichten, dachte ich mir. Ich würde bestimmt noch Stunden hier sitzen müssen, um fertig zu sein, und den indischen Behörden zusehen, wie sie unzählige Papiere untersuchen und abstempeln. Doch mit einem Anruf meines in Delhi sehr einflussreichen Gastvaters änderte sich meine Situation. Ein Beamter brachte uns in ein Einzelzimmer mit Sofa, servierte uns einen warmen Chai, und innerhalb von zehn Minuten war die Sache geklärt. Ich war platt. Abends erzählte ich meiner indischen Betreuerin von dem Erlebnis und sie gab mir nur lässig die Antwort: „That’s India darling.“ Das also war einer meiner ersten Tage in diesem spannenden, mir bis dahin völlig fremden Land. Ich wurde aufgeklärt: Das ist Indien!
Mein Name ist Laura, ich bin 17 Jahre alt und habe im Rahmen des Austauschprogramms von YFU ein Schuljahr in Nordindien verbracht. Von Juli 2012 bis Mai 2013 habe ich in zwei indischen Gastfamilien (Vier Monate in Delhi, Sechs Monate in Shimla) gelebt und die 11. und 12. Klasse einer indischen Schule besucht.
Die mir meistgestellte Frage lautet: Warum ausgerechnet Indien? Ja… Um ehrlich zu sein, weiß ich das bis heute selbst nicht so genau. In meinem Kopf sammelten sich damals viele Gedanken, die meine Lust, nach Indien zu reisen, erweckt haben.
Zum einen war da dieses Bauchgefühl, dieses Kribbeln, das mir versprach, dass dort ein exotisches Abenteuer auf mich wartet. Zum anderen waren es die bunten Bilder, die ich mir ausmalte, wenn ich an Indien dachte. Kurz gesagt, ich wollte einfach hinaus in die Welt und etwas Spannendes, Einzigartiges und Faszinierendes erleben.
Neue Eindrücke und Erfahrungen gewinnen, neue Menschen kennenlernen und eine fremde Kultur in ihrem innersten Kern entdecken. Indien war für mich ein Land, das sich von unserem Lebensalltag und unserer Gesellschaft völlig unterschied und eine Kultur, von der ich kaum etwas wusste. Ein stetig wachsendes Schwellenland, ein sogenannter Tigerstaat, der sich vom Entwicklungsland zum Industriestaat hocharbeitet. Was macht dieses Land aus? Wie funktioniert Bildung in Indien? Wie ist die Gesellschaft aufgebaut? Was sind die Probleme Indiens?
Der sogenannte Kulturschock hat mich immer wieder eingeholt. In Indien findet man kaum eine Gemeinsamkeit zu Deutschland. Angefangen mit der Sprache, der Schule, der Mentalität der Menschen, bis hin zu dem Chaos auf den indischen Straßen. Schon auf dem Weg zur Schule bekam ich die große Kluft zwischen arm und reich zu spüren. In Delhi wohnte ich in einem sehr reichen Viertel, wo sich Villen und große Häuser aneinander reihen und Grundstücke teuer und schwer zu erwerben sind. Doch auch genau das Gegenteil ist dort zu finden. Direkt gegenüber von unserem Haus erstreckte sich ein riesiger Slum, in dem sehr arme Menschen täglich ums Überleben kämpfen. Stellt euch also vor, wie ich an einem normalen Morgen mit unserem Driver und meinen zwei Gastgeschwistern im Auto sitze und zur Schule fahre. Im Radio läuft gerade der angesagte Song eines neuen Bollywoodfilms, Delhi erwacht. Raus aus dem Einfahrtstor, rein in das bunte Treiben! Wir fahren etwa 50 Meter und ich sehe zwischen Müllbergen und frei laufenden Kühen einige Menschen vor den Slums. Von Männern, die gerade an die Wand pinkeln oder sich die Zähne putzen bis hin zu kleinen Kindern, die mit Schuluniform und Schulranzen aus den Blechhütten hervor treten.
Zwei Gegensätze, die aufeinander prallen: Meine reichen Gastgeschwister und ich im Auto auf dem Weg zur Schule und die vielen, armen Kinder vor den Slums. Weiter geht es durch den indischen Alltagsverkehr auf Delhis Straßen: Zwischen Kühen, Mopeds, Rickshas, Fahrrädern und Autos bahnt sich jeder seinen eigenen Weg durch das Chaos, und falls etwas den Durchgang blockiert, wird kräftig gehupt und schon wird eine Gasse frei. Man kann die vielen Sinneseinflüsse, die man auf indischen Straßen wahrnimmt, auf keinem noch so gutem Foto festhalten. All die Menschen verschiedener Religionen, Hautfarben oder Schichten, die dort aufeinander treffen. Die Geräusche der schreienden Obst- und Gemüseverkäufer am Straßenrand, die sich mit dem tobenden Verkehrslärm und fernen Gebetsgesängen von Tempeln mischen. Die Gerüche von Abgasen, stinkenden Tieren und Essensständen. Auf indischen Straßen passiert immer etwas.
Auch die Sprache stellte mich vor einige Herausforderungen in meinem Austauschjahr. Mit Hindi und Englisch als Amtssprachen, waren es gleich zwei Fremdsprachen, die ich gelernt habe. Der Unterricht in den Schulen findet in Englisch statt, in der Familie und unter Freunden wird Hindi gesprochen. Mit Englisch zu kommunizieren, stellte die wenigsten Probleme dar, weil sich die meisten Inder gut auf Englisch verständigen können. Hindi zu lernen war jedoch nicht leicht für mich. Ähnlich wie im Chinesischen hat auch Hindi ein anderes Alphabet und andere Schriftzeichen, als das normale „ABC“, das wir kennen. Somit fand ich mich in einem Buchstabensalat wieder, der für mich wie ein Urwald ohne Wegweiser war. In den Nachrichten, in der Zeitung, auf normalen Verkehrsschildern oder Werbeplakaten verstand ich kein Wort. Nach zwei Wochen hatte ich die Nase voll und mir war klar: Ich muss und will das können! Denn auch wenn meine Gastfamilie unter sich in Hindi sprach, verstand ich nur englische Schlüsselwörter oder einfache Begriffe, die ich schon beherrschte. Nach und nach habe ich mir das Hindi-Alphabet selbst beigebracht und irgendwann konnte ich zumindest lesen und schreiben.
Kleine Kulturschocks habe ich auch immer wieder mit der Mentalität der Menschen in Indien erlebt, die für uns Deutsche schwer nachzuvollziehen ist. Inder ticken völlig anders als wir. Sie sind sehr viel feinfühliger und sensibler und wissen genau, wie ihr Gegenüber sich fühlt. Ein Blick in die Augen genügt und sie haben dich durchschaut. Wir „Europäer/Westliche“ hingegen interessieren uns weniger, wie es unserem Gegenüber geht und kümmern uns mehr um uns selbst. Außerdem steht in Indien die Familie über allem, sie ist das A und O, der Mittelpunkt deines Lebens. Entscheidungen werden immer gemeinsam getroffen und wenn jemand Hilfe braucht, steht dir die ganze Familie zur Seite.
Das indische Schulsystem unterscheidet sich auch sehr von dem deutschen. 90 Prozent der Schüler besuchen englischsprachige Privatschulen, da diese qualitativ besser sind als staatliche Schulen. Das Lernen und Vermitteln des Stoffes besteht größtenteils aus Auswendiglernen und Frontalunterricht. Disziplin, Respekt und Ehrgeiz stehen an der Tagesordnung. Trotzdem war es oft viel lauter in meiner indischen Klasse als in meiner deutschen. An allen indischen Schulen gibt es Schuluniform. Das hat mir besonders gut gefallen und ich vermisse es hier in Deutschland. Durch die Schuluniform ist jeder Schüler gleich, egal welcher Religion oder Klasse man angehört. In der Schule fand ich schnell gute Freunde, alle waren stets sehr freundlich, hilfsbereit und offen zu mir.
Die Schule ist neben der Familie der zweitgrößte Lebensschwerpunkt für Jugendliche in Indien, da sie in der Schule ihre Freunde treffen können und außerhalb der Schule nicht viele Möglichkeiten haben dies zu tun.
Ich habe in diesen zehn Monaten in Indien unglaublich viele schöne Erfahrungen gesammelt, und auch, wenn es viele schwere Zeiten gab, muss ich sagen, dass ich genau an solchen Herausforderungen gewachsen bin.
Hat es sich gelohnt ein Jahr ins Ausland zu gehen?
Ja, für mich hat es sich auf jeden Fall gelohnt ein Jahr ins Ausland zu gehen. Denn man verschwendet das Jahr nicht, man gewinnt eher ein Jahr an wunderbaren und einzigartigen Erfahrungen hinzu. Mein Austauschjahr hat mich sehr in meiner Persönlichkeitsentwicklung geprägt. Ich bin viel offener und selbstbewusster geworden, es fällt mir leichter als vorher mich auf neue Dinge einzulassen und zu vertrauen. Durch die vielen Herausforderungen, die ich in Indien gelernt habe zu meistern, bin ich auch viel selbstständiger und erwachsener geworden.
Der Abschied von Indien, von meiner indischen Familie, meinen Freunden, meiner Schule und allgemein der indischen Kultur mit all ihren vielfältigen Aspekten ist mir sehr schwer gefallen. Das Land hat mir eine wunderbare Zeit in meinem Leben gegeben.
Ich kann es jedem nur empfehlen, sich zu trauen eine so außergewöhnliche Kultur, wie die indische, zu entdecken!
Für weiterführende Informationen über Indien und Austauschprogramme von YFU allgemein: www.yfu.de
www.newsfromindia.over-blog.de